San FranciscoEs wird der entscheidende Prozess der globalen Finanzkrise. Alle bedeutenden Banken der Wall Street haben mittlerweile mit Milliardenstrafen für ihre Rolle im Zusammenbruch der Weltwirtschaft 2008 gezahlt, ausgelöst durch dubiose Kreditgeschäfte, skrupellose Finanzmanöver oder bewusste Täuschung von Investoren und Aufsichtsbehörden, wie im Fall der Bank of America. Aber bislang ist noch nicht ein einziger der Akteure persönlich haftbar gemacht worden. Im Gegenteil: Maurice „Hank“ Greenberg, der heute 89-jährige ehemalige Vorstandschef des Versicherungsgiganten AIG, dreht sogar den Spieß um und verklagt die Regierung.
Die Rettung der AIG vor der Pleite mit 182 Milliarden Dollar Steuergeldern war seiner Meinung nach nichts anderes als ein dreister Schachzug der Regierung, um ihn und die anderen AIG-Aktionäre zu enteignen. Er erträumt für sich das, was Millionen einfachen Amerikanern für immer verwehrt bleiben wird. Während die nicht zuletzt durch die Machenschaften von Banken und Versicherungen wie AIG ihre Häuser und Existenzen verloren, will er für sich die Finanzkrise ungeschehen machen.
Greenberg, der im Zuge der AIG-Sanierung nach eigenen Angaben 90 Prozent seines Vermögens einbüßt hat, will nicht weniger als 25 Milliarden Dollar vom US-Staat. Bundesrichter Thomas Wheeler kam vergangene Woche zu dem Schluss, dass wegen der Komplexität des Falls ein Prozess angebracht ist. Das Verfahren wird am 29. September beginnen und wahrscheinlich sechs Wochen dauern. Die Wall Street hält den Atem an. Verliert Greenberg, dann kann es weiteren Bankern an den Kragen gehen. Gewinnt er dagegen, ist nach Meinung vieler Kritiker endgültig klar, dass das große Geld längst die USA beherrscht.
Sie sind alle davongekommen: Angefangen von Dick Fuld, dem Chef der Pleitebank Lehman Brothers, über James Dimon, Chef von JP Morgan, eines der zentralen Institute, wenn es um Subprime-Kredite geht, bis zu Brian T. Moynihan, seit 2010 CEO der Bank of America. Er hatte bis zuletzt nicht einsehen wollen, dass sein Institut zur Finanzkrise substanziell beigetragen hat. Insider berichten, dass Moynihan bis zuletzt auf eine läppische Strafe von ein paar Millionen Dollar bestanden habe. Erst, als ihm Justizministerium und Staatsanwaltschaft unmissverständlich klargemacht hatten, dass jetzt kein Weg mehr an einer Klageerhebung vorbeiführe, sei er eingeknickt. Letztendlich wurde eine Strafzahlung von 17 Milliarden Dollar verhängt.
Nicht so Maurice Greenberg. Er will es ausfechten. Was war geschehen: Als das Finanzsystem 2008 bereits zu weiten Teilen kollabiert war und vom Steuerzahler künstlich beatmet wurde, verschlechterte sich die Lage der AIG dramatisch. Mit wilden Derivategeschäften („credit default swaps“) in der Hoffnung auf spekulative Gewinne hatte sich der Versicherer in die Krise manövriert. Damals war Greenbergs Holding Starr International mit zwölf Prozent größter Einzelinvestor und Greenberg, nicht mehr CEO und damals noch unter den Top-200 der reichsten Menschen der Welt, hielt persönlich Anteile.
Als die Lage aussichtslos wurde, schoss der Staat Geld zu und übernahm im Gegenzug 80 Prozent der Anteile. Schon damals forderten AIG-Manager, gerettet zu werden ohne Anteile abgeben zu müssen. Greenberg selbst beschwerte sich in einem Interview mit Charlie Rose 2013 über zahlreiche Optionen, die andere Banken bekommen hätten, AIG aber verweigert worden waren. Damit hätte man dieses „Liquiditätsproblem“, mehr könne er nicht sehen, einfach lösen können. Aber vergebens, der Staat stieg ein. In der Folge wurden Aktien zusammengelegt („reverse split“) und die Kapitalbasis erhöht. Das rettete zwar die Gesellschaft, aber die Altaktionäre ereilte das Undenkbare: Sie mussten tatsächlich für die Rettung finanzielle Opfer bringen, die über Kursverluste hinausgingen.
Das, so Greenberg, habe die Aktionäre Milliarden gekostet, während die AIG Ende 2012 den Staat ausbezahlt habe. Es blieben sogar 23 Milliarden Dollar Gewinn für den Steuerzahler, der eigentlich immer auf der Verliererseite steht. Geht es nach Greenberg, sollte es genau so sein: der Steuerzahler sollte das Nachsehen haben. Für die Aktionäre, also damit an erster Stelle für sich selbst, fordert er eine Schadenssumme von 25 Milliarden Dollar – dies würde den Gewinn des Staates wieder ausradieren und für Greenberg damit ganz persönlich die Finanzkrise.
Ohnehin hat er sich Greenberg, der seit 1960 bei AIG war, bislang standhaft geweigert, jegliche persönliche Verantwortung zu übernehmen. Im Gegenteil. Auf die suggestive Frage des Bloomberg-Moderators, ob er das alles hätte verhindern können, wenn er weiter CEO gewesen wäre, antwortete er im März 2013 nur mit einem Wort: „Absolut!“. Er schreckt nicht einmal davor zurück, seine engen freundschaftlichen Beziehungen zur New Yorker Zentralbank und ihre Nützlichkeit zu beschreiben:
„Wenn wir Zugang zum Geld der Fed („Fed Window“) gebraucht hätten, ich bin sicher, ich hätte es bekommen.“ Nur um dann hinzuzufügen, dass er Behauptungen des damaligen Finanzministers Hank Paulson, ein Untergang von AIG hätte das ganze System nach unten gezogen, „überhaupt nicht glauben“ könne. Am Ende, so seine Argumentation, hätte die Regierung die Verfassung der Vereinigten Staaten verletzt, nach der der Staat niemandem Eigentum wegnehmen dürfe ohne ihn angemessen zu entschädigen. Mit anderen Worten: Hätte der Steuerzahler einfach nur das Geld in Schubkarren zu Minimalzinsen in der Hauptverwaltung der AIG abgeliefert, wäre doch alles super gelaufen. Habe Greenberg irgendwie, irgendwo, irgendwas falsch gemacht, fragt der irritierte Moderator weiter und bekommt nur einen Antwort. „Nein“.
Kompletter Realitätsverlust? Altersstarrheit? Oder doch das Opfer eines üblen Komplotts der Regierung George W. Bush in Zusammenarbeit mit böswilligen Wall-Street-Konkurrenten, ganz vorne dabei ehemalige Goldman-Sachs-Manager, die das Board von AIG übernommen hatten? Das soll das Gericht jetzt herausfinden.
Greenbergs Fehden mit dem Justizapparat sind indessen leidlich bekannt. 2005 musste Greenberg aufgrund eines Bilanzskandals zurücktreten. Seitdem arbeitet er an der Dolchstoßlegende von der ruchlosen Regierung, damals in Form des New Yorker Gouverneurs Eliot Spitzer, gegen den Verfechter des Kapitalismus. Er nahm nach seinem erzwungen Abschied Aktien im Wert von 4,3 Milliarden Dollar aus dem Pensionsfonds der Versicherung, zu Unrecht wie die Anwälte von AIG behaupteten. Aber vor Gericht kamen sie mit der Argumentation nicht durch. Es rächte sich, dass AIG den Ruhestandsfonds für Top-Manager von Greenbergs eigener Starr Holding hatte managen lassen. Nach seinem Rauswurf als CEO war er immer noch Chef von Starr International und hatte so legalen Zugriff auf das Vermögen.
AIG selbst entschied sich schon Anfang 2013 einer Klage von Greenberg gegen die Notenbank von New York nicht beizutreten. Die Klage wurde von Richter Paul. A. Engelmayer Ende 2012 bereits zurückgewiesen, nicht ohne die bemerkenswerte Analyse sie „zeichne ein Bild eines Verrats durch die Regierung, die einen Oliver-Stone-Film („JFK“, „Platoon“, „Wall Street“) wert wäre.“ Greenbergs Holding führe an, dass „während das Weltfinanzsystem an der Schwelle zum Kollaps gestanden habe, sich die New Yorker Zentralbank im Stile eines napoleonischen Raubzugs der AIG bemächtigt und Teile ihres Vermögens an andere notleidende Institute weitergegeben hätte, um sich die Reste einzuverleiben.“
AIG hatte damals verlauten lassen, man wolle die Menschen nicht verklagen, die einen gerettet hätten. Der moderate Ton kam in Washington und auf Main Street beim gemeinen Amerikaner gut an. Zu frisch waren noch die Erinnerungen an die AIG, die bereits 2009 an die selben Manager, die den Karren in den Dreck gefahren hatten, Erfolgsboni für insgesamt 165 Millionen Dollar auszahlen wollte.
Aber solche moralischen Gewissensbisse fechten den alten Soldaten Greenberg nicht an. „Das ist wie Krieg“, macht er zum Prozess gegenüber Charlie Rose im Interview klar. „Du weißt nie wie es endet“. Er weiß, wovon er redet. Greenberg, am 4. Mai 1925 in New York geboren, soll über sein wahres Alter gelogen haben, um der Armee beitreten zu können und war am D-Day in der Normandie dabei. Später kämpfte im Korea-Krieg.
Für die Wall Street hat der Prozess Signalcharakter. Generalstaatsanwalt Eric Holder hatte anlässlich der 17-Milliarden-Dollar-Strafe für die Bank of America noch einmal betont, mit der Zahlung seien in keiner Weise Ermittlungen wegen persönlicher Verfehlungen der Bank-Manager abgegolten. Es sei auch noch kein Ende der Aufarbeitung der Finanzkrise in Sicht. Das Justizministerium steht unter massiver öffentlicher Kritik, weil bislang noch niemand zur Rechenschaft gezogen werden konnte.
Daneben würde ein Sieg Greenbergs die Frage aufwerfen, ob andere Rettungsaktionen oder auch Nicht-Rettungsaktionen so wie bei Lehman Brothers korrekt waren. Hätte man nicht auch Lehman und seine Aktionäre vor dem Untergang retten müssen? Kein anderer als der JP Morgan-Chef und langjähriger Obama-Vertraute Jamie Dimon hatte schon 2011 den damaligen Fed-Chef Ben Bernanke öffentlich dafür kritisiert, er habe nach der Subprime-Krise 2008 schlicht überreagiert. Schließlich musste Dimon auch persönlich heftig leiden. Lag das Gehalt des Bankchefs, der wie wahrscheinlich kein zweiter den Subprime-Tiger geritten ist, 2006 noch bei 42 Millionen Dollar, waren es 2010 nur noch 21 Millionen Dollar.
Greenberg selbst ist längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Zusammen mit 83-jährigen Starinvestor Warren Buffett arbeitet er sich im asiatischen Versicherungsmarkt vor. Die erste Übernahme eines zuvor staatlichen chinesischen Versicherers ist abgeschlossen, meldet Bloomberg. Eines muss man Greenberg lassen. Aufgeben ist für ihn wirklich keine Option.