Rund 250.000 Verkäufer von Versicherungen in Deutschland müssen sich umstellen. Einfache und schnelle Geschäfte dürften künftig immer seltener werden. Es zählt dagegen – nun auch in den Augen der Versicherer – Nachhaltigkeit: Der Kunde soll so beraten werden, dass er bereits auf Anhieb die für ihn richtige Lösung erhält.
Das bedeutet für viele Versicherungsvermittler: Sie müssen reagieren. Das jedenfalls fordern diejenigen, die sie für ihre Dienste bezahlen: die Chefs großer Versicherungskonzerne. Und die Notwendigkeit dafür belegt überdies eine Studie von zwei Professoren aus Dortmund. Deren Fazit: Wer sich nicht verändert, kann seinen Betrieb bald schließen.
Vier Chefs großer Versicherer stellten sich auf der Branchenmesse DKM in Dortmund der großen Vermittler-Debatte. „Aufbruch oder Einbruch – Was wird aus der deutschen Versicherungswirtschaft?“, lautete der Titel der Diskussion unter der Leitung von Marc Surminski, dem Chefredakteur der „Zeitschrift für Versicherungswesen“.
Der Branchenkenner Surminski sieht dabei weder Einbruch noch Aufbruch in der Branche, sondern spricht lieber von Umbruch. Die Themen, die allen unter den Nägeln brennen sind dabei: die niedrigen Zinsen, die Garantien für Kunden sowie die Bezahlung für Beratungstätigkeit. Braucht die Branche überhaupt ein neues Vergütungsmodell, wie es der Versicherer-Verband GDV vorgeschlagen hat?
Der Chef des Marktführers Allianz Deutschland, Markus Rieß, glaubt, dass an Veränderungen kein Weg vorbei führt. „Es ist sachgerecht, auch über Vermittlervergütungen zu sprechen“, verteidigte er die Initiative des Branchenverbandes. Das große Problem sei, dass gerade in Zeiten niedriger Zinsen die Kostenbelastung für die Kunden im Vordergrund stehe.
Allerdings wollte er sich – wie seine Kollegen auch – nicht auf einfache Antworten einlassen. Dazu zählt er die Forderung, dass die Provisionen gedeckelt werden müssten. Wichtig sei, die gesamten Kosten anzuschauen. Auch seine Kollegen von den Versicherern Volkswohl Bund, Talanx und Zurich ließen keinen Zweifel, dass sich einiges verändern muss.
Joachim Maas vom Maklerversicherer Volkswohl Bund plädierte allerdings dafür, dass kein Vertriebsweg benachteiligt werden dürfe. Damit sprach er das Problem an, dass Alleinvertreter von Versicherungskonzernen von einer Deckelung der Provisionen womöglich weniger stark betroffen sein könnten als Makler, die unabhängig arbeiten.
„Für gute fachliche Beratung verdient man auch gutes Geld.“ Diesen Grundsatz hob Ralph Brand hervor, der Vorstandschef der Zurich in Deutschland. Auch er sprach aber von großen Herausforderungen und vollzog den Schulterschluss mit den versammelten Versicherungsvermittlern: „Wir müssen uns verändern.“
Was damit konkret gemeint sein könnte, sprach am deutlichsten der Deutschland-Chef des Versicherungskonzerns Talanx an. Heinz-Peter Roß brach eine Lanze für die Lebensversicherung, forderte aber nicht bloß gute Beratung, sondern auch: „Die Leistung muss beim Kunden ankommen.“
Leider habe es in der Vergangenheit jedoch Auswüchse gegeben, räumte Roß ein. Er meinte damit sogenannte Umdeckungen. Das heißt: Einem Kunden wird innerhalb weniger Jahre ein ähnliches Produkt gleich mehrmals verkauft. Als Hauptgrund dafür gilt unter Verbraucherschützern das Interesse, erneut eine satte Provision einzustreichen.
Versicherungsmanager Roß sprach konkret Umdeckungen im Bereich der Riester-Rente an, also der staatlich geförderten, privaten Vorsorge für das Alter. Man müsse „verhindern, dass doppelt, dreifach, vierfach eine Provisionierung von geförderten Produkten erfolgt“, forderte Roß.
Der Versicherungsmanager sprach sich für umfassende Beratung aus. Das heiße im Verkauf: Konsumverzicht für Kunden und risikoreichere Anlagen. Die laufende Betreuung der Kunden muss aus seiner Sicht gleichwertig betrachtet werden zur Beratung, die beim Vertragsabschluss erfolgt. Derzeit verdienen die meisten Vermittler vor allem zu Beginn einer Kundenbeziehung.
Wenig Hoffnung machten die Versicherungschef ihren Verkäufern beim Thema Vermittlersterben. Ob es dazu kommt, dazu wollten sie keine Vorhersage wagen. Allerdings räumte Allianz-Manager Rieß ein, entsprechende Szenarien seien wahrscheinlicher als das Gegenteil – dass also die Zahl der Versicherungsvermittler eher stabil bleibt.
Damit bestätigte Rieß zumindest in der Tendenz eine Studie der Fachhochschule Dortmund, die auf der DKM vorgelegt wurde. Darin wird ein gewaltiger Umbruch im Versicherungsvertrieb prognostiziert. Selbst wenn sich der große Rahmen nicht ändert, könnten in den nächsten Jahren fast 30.000 hauptberufliche Versicherungsvermittler aufgeben. Das wäre ein gewaltiger Aderlass.
Die Studienautoren, die Professoren Matthias Beenken und Michael Radtke, gingen sogar noch weiter. Sollte die Politik den Verbraucherschutz verschärfen und womöglich sogar Provisionen verbieten, wie das in Nachbarländern passierte, ständen womöglich bis zu 45 Prozent der hauptberuflichen Vermittler vor dem Aus.
Hintergrund: Insgesamt gibt es in Deutschland rund 250.000 Versicherungsvermittler. Doch mehr als die Hälfte davon arbeitet nebenberuflich. Derzeit leben nach Berechnungen der Dortmunder Experten nur knapp 100.000 Versicherungsvermittler von den Provisionen, die sie für verkaufte Versicherungsverträge erhalten. Diese Gruppe dominiert den Verkauf und ist daher für die Versicherungsbranche besonders wichtig.
Doch in der Gruppe der Hauptberuflichen gibt es viel Schatten. So sind Existenzgründer besonders bedroht. Im schlimmsten Fall müssten diese wohl fast vollständig wieder aus dem Markt ausscheiden, erwarten Beenken und Radtke. Ähnlich hart könnte es bereits etablierte Vermittler treffen, die noch nicht so lange, das heißt weniger als zehn Jahre im Markt sind.
Die besten Überlebenschancen hätten dagegen die alten Hasen – aber auch nur, wenn sie sich anpassen an die neuen Bedingungen und Einnahmeverluste in einigen Bereichen durch neues Geschäft in anderen Bereichen ausgleichen. Fazit von Studienautor Beenken: „Wenn es so bleibt, wie es ist, sinkt die Zahl der Vermittler um 30 Prozent.“ Das bedeutet umgerechnet: Fast 30.000 Versicherungsvermittler stehen vor dem Aus – so oder so.
Für den Vermittlerverband BVK sind diese düsteren Prognosen Grund genug, um Alarm zu schlagen. Der Bundesverband Deutscher Versicherungskaufleute (BVK) hatte die Studie „Betriebswirtschaftliche Konsequenzen eines Systemwechsels in der Vergütung von Versicherungsvermittlern“ in Auftrag gegeben.
Doch solch verheerende Vorhersagen hatte der Verband wohl nicht erwartet. Entsprechend drastisch waren die Kommentare zu den Ergebnissen: „Wer die Axt an Vermittler anlegt, legt auch die Axt an den Sozialstaat an“, folgerte BVK-Vizepräsident Gerald Archangeli.
Die Gründe für das prognostizierte Vermittlersterben sind vielfältig. Eine wichtige Ursache liegt letztlich in der Finanzkrise. Seither wird politisch der Verbraucherschutz und die Transparenz in der Versicherungsbranche stärker betont und gefördert. Auf der anderen Seite ist der Wettbewerbsdruck in der Versicherungsbranche selbst gestiegen.
Um konkurrenzfähig zu bleiben, sind viele Versicherer gezwungen, permanent die eigenen Kosten zu senken. Dadurch sinken auch die Einnahmemöglichkeiten für Vermittler im Trend. BVK-Präsident Michael Heinz weiß das und forderte daher in Dortmund mit Blick auf die Unternehmen: „Die Provisionen für Versicherungsvermittler müssen erhöht werden.“
Heinz begründete höhere Provisionen so: „Wir haben sehr viele Kollegen unterhalb des Existenzminimums.“ Die Vermittler bräuchten mehr Vergütungsmöglichkeiten und keine staatliche Regulierung. Mit dieser Forderung wird er es jedoch schwer haben, wie die Debatte der Versicherungschefs nur wenige Stunden später auf der DKM bewies.
Die Studienautoren hoben dagegen stärker den politischen Aspekt des Themas hervor. „Wir haben eine starke Betonung des Verbraucherschutzes“, sagte Beenken. „Für uns scheint das übertrieben zu sein.“ Und dies konterkariere die Fiskal- und Sozialpolitik, denn die Menschen würden existenzielle Risiken, wie Berufsunfähigkeit, nicht mehr angemessen absichern.
Studienautor Beenken forderte: „Es muss eine verstärkte Förderung stattfinden, damit die Menschen stärker auf die Vermittler zugehen.“ Außerdem würde die Regierung auch den Mittelstand fördern, wenn sie die Lasten für Vermittler verringere.
Hintergrund: Die Versicherungsvermittler fürchten nicht nur die deutsche Politik, sondern sind auch über die europäische Entwicklung besorgt. Die EU-Pläne für eine neue Versicherungsvermittler-Richtlinie (IMD II), die Förderung der Honorarberatung und eine Beschneidung des Provisionsvertriebs gefährdeten die Existenz der selbstständigen Vermittler.
„Ohne Vermittler wird die Politik nicht die von ihr selbst gesteckten Ziele erreichen“, erklärte BVK-Präsident Heinz. Damit meint er vor allem die Verbesserung der privaten Vorsorge. Von der Politik fordert er daher Rahmenbedingungen, „die uns mittelständischen Unternehmen mit unseren Angestellten den nötigen Freiraum geben“.
Auch die Chefs der Versicherer appellierten am Ende ihrer Debatte an das Wir-Gefühl: Versicherer und Vermittler säßen doch letztlich in einem Boot. Und sie betonten wie die Vermittler und die Wissenschaftler ihre große Bedeutung für die Volkswirtschaft und die Zukunft des Landes.
„Ich glaube fest an den sozialpolitischen Auftrag“, sagte Talanx-Manager Roß und sprach damit seinen Manager-Kollegen aus dem Herzen. Insbesondere im Verlauf von Produkten für die private Altersvorsorge und der Absicherung der Erwerbstätigkeit durch Berufsunfähigkeitsversicherungen sieht er „massiv Luft“.
Zurich-Manager Brand ergänzte: Die Vermittler müssten mit Überzeugung die Menschen darin bestärken, auf aktuellen Konsum zu verzichten. Die Deutschen sollten eben nicht den nächsten Flachbild-Fernseher kaufen, sondern lieber 100 Euro im Monat in die Altersvorsorge stecken.
Allianz-Manager Rieß warnte dabei allerdings: „Das Geschäft kommt nicht von alleine. Wir müssen uns in der Vermittlerschaft umstellen.“ Dazu gehöre auch, die Digitalisierung in der Gesellschaft zu beachten. Diese müsse in das Geschäft integriert werden. Es gebe dabei jedoch nur beides: Digitalisierung und persönlichen Verkauf.