In seiner heimischen Garage hat Paul-Otto Faßbender andere Autos als einen VW Passat stehen. Doch der Dieselskandal von Europas größtem Autokonzern schlägt auch den Vorstandschef des Versicherers Arag in seinen Bann – allerdings aus professionellen Gründen. Denn die Arag zählt zu den größten deutschen Rechtsschutzversicherern und finanziert inzwischen allein in Deutschland rund 1.900 Kunden, die wegen des Diesel-Skandals gegen Volkswagen oder einen Händler klagen, wie Faßbender am Rande des Jahresgesprächs des Düsseldorfer Versicherers darlegte. Hinzu kämen weitere Hunderte von Fällen, in denen die Arag rechtliche Orientierung gegeben habe sowie etwa 400 Klagefinanzierungen im europäischen Ausland. Doch die Zeit läuft gegen die Kläger: Schon Ende des Jahres läuft eine wichtige Frist ab.
Der VW-Skandal ist das zweitgrößte Verfahrensthema für den Versicherer nach dem Rechtstreit um den Widerrufsjoker bei Immobilienfinanzierungen. Volkswagen hatte im September 2015 Manipulationen der Emissionswerte bei weltweit elf Millionen Dieselautos zugegeben. Die von Volkswagen ausgehandelten Entschädigungen und Strafzahlungen belaufen sich inzwischen auf insgesamt etwa 25 Milliarden Euro – der Großteil davon geht jedoch an Kunden in den USA. In Deutschland setzt der Konzern dagegen auf Software-Updates. Hierzulande seien 91 Prozent umgerüstet, in Europa 73 Prozent, hieß es jüngst aus Wolfsburg. Doch vielen Kunden ist das als Geste zu wenig.
Zumal ein deutsches Gericht jüngst zum zweiten Mal hierzulande Formfehler in einem VW-Autodarlehensvertrag erkannt hatte, die einen Widerruf auch nach Jahren noch möglich machen. Doch die Sache ist bisher nicht eindeutig. Während das Landgericht Berlin und das Landgericht Arnsberg vor kurzem den Klägern Recht gaben, wies das Landgericht Düsseldorf zuletzt eine entsprechende Klage ab. Auch die Richter in Gießen, Köln, Braunschweig und Stuttgart ließen VW-Besitzer abblitzen. Zudem ordnete das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) gerade erst wegen unzulässiger Abgastechnik nun auch beim VW-Geländewagen Touareg einen Rückruf an. Davon seien in Deutschland 25.800 und weltweit insgesamt 57.600 Fahrzeuge betroffen, teilte das KBA mit.
Der zuständige Arag-Vorstand Hanno Petersen erwartet jedoch wegen der strittigen VW-Darlehensverträge keine neue Klagewelle. „Das spielt bei uns bisher keine große Rolle“, sagte der Topmanager. Dennoch rechnet der Rechtsschutzversicherer damit, dass die Zahl der Klageanträge gegen VW bis zum Ende dieses Jahres noch einmal steigen wird – und das hat einen konkreten Grund. Denn Ende des Jahres verjähren die Gewährleistungsansprüche von VW-Kunden gegenüber den Händlern; allerdings nicht gegen VW selbst. Die Arag erwartet deshalb, dass sich in den nächsten Wochen noch mehr Kunden an sie wenden werden. „Derzeit kommen 10 bis 20 Fälle pro Tag hinzu“, erzählte Petersen.
Die wachsende Zahl der Kostenzusagen im Streit mit VW ist jedoch nicht allein der wachsenden Klagelust der VW-Fahrer geschuldet, sondern aus Sicht der Arag auch einer inzwischen herrschenden Rechtsprechung bei vielen Gerichten. Nachdem VW auch zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Diesel-Skandals nicht für alle Fahrzeuge eine vollständige Lösung anbieten könne, würden inzwischen mehr Richter Schadensersatzansprüche gegen VW akzeptieren, erläuterte Petersen. Anfangs hatte die Assekuranz in erster Linie Klagen auf Mängelbeseitigung unterstützt, weil dem Unternehmen eine angemessene Frist zur Behebung der Fehler eingeräumt werden müsse. Aber inzwischen scheint die Geduld vieler Richter offensichtlich erschöpft. „Es ist eine gewisse Klarheit eingetreten, dass eine Nachbesserungspflicht besteht und bei Nichteinhaltung auch Ansprüche des Kunden geltend gemacht werden können“, betonte Petersen.

Wirtschaftlich scheint VW den Skandal inzwischen verdaut zu haben. Rechtlich steckt der Konzern aber noch immer mitten in der juristischen Aufarbeitung – und das an mehreren Fronten: Allein über die Internetplattform „myright.de“ reichten Anfang November mehr als 15.000 VW-Kunden Klagen auf Schadenersatz beim Landgericht Braunschweig ein – verloren die erste Runde vor Gericht allerdings. Bisher gibt es den Angaben zufolge kein Urteil in letzter Instanz. Einen außergerichtlichen Vergleich lehnt der Konzern trotz des Drucks vieler Anwälte weiter ab. Die niederländische Organisation ‘Stichting Volkswagen Car Claim’ kündigte vor einigen Monaten an, repräsentativ für rund 180.000 betroffene Autobesitzer in den Niederlanden ein Gerichtsverfahren einzuleiten.
Für die Rechtsschutzversicherer ist das ein wichtiger Präzedenzfall. Denn sie bleiben nur auf den Kosten abgewiesener Klagen sitzen. Werden VW oder Händler verurteilt, dann muss dagegen die Gegenseite zahlen – was die Kassen der Arag wiederum schont. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen die Düsseldorfer deshalb das Tauziehen um die Nachbesserungen der Fahrzeuge. So kalkuliert die Arag nach früheren Angaben insgesamt Kosten von bis zu 15 Millionen Euro für die VW-Klagen ein. Denn im Gegensatz zu den USA, wo jeder Kunde auf bis zu 7.000 Dollar Entschädigung hoffen darf, müssen deutsche Autokäufer vor Gericht ziehen, wenn sie gegen VW Ansprüche geltend machen wollen.
Volkswagen weist die Ansprüche in Europa allerdings zurück und argumentiert, die Fahrzeuge entsprächen nach dem Softwareupdate in Europa den gesetzlichen Vorgaben. Bei dem Rechtsstreit geht es nicht nur für VW um viel. Auch für die Versicherungsbranche geht es um hohe Summen. Wenn alle knapp 2,5 Millionen Besitzer eines Skandalautos in Deutschland vor Gericht ziehen würden, beliefen sich Gerichtskosten und Rechtsanwaltshonorare sogar auf insgesamt rund 16 Milliarden Euro, schätzt die Stiftung Warentest. Umso erleichterter registriert die Arag, dass die Erfolgsaussichten der VW-Kläger vor Gericht aus ihrem Blickwinkel gestiegen sind. VW-Boss Matthias Müller kann sich angesichts aktueller Auslieferungsrekorde des Konzerns dagegen nur damit trösten, dass das finanzielle Polster für weitere Schadensersatzzahlungen vorhanden sein dürfte.
Fonte:
Handelsblatt