Die deutschen Versicherer kämpfen mit dem Nullzinsumfeld und alten Renditeversprechen. Doch an eine rasche, grundlegende Wende zum Besseren glaubt keiner der Experten auf der Jahreskonferenz des Branchenverbandes.

Die Diagnose ist ebenso knapp wie deutlich: „Der Niedrigzins droht zum Stabilitätsrisiko zu werden“, klagt Klaus Wiener aus der Geschäftsführung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) am Donnerstag auf dessen Jahreskonferenz “Volkswirtschaft und Finanzmärkte” in München. Der von der Politik und der Finanzaufsicht Bafin angeordnete Aufbau einer Zinszusatzreserve, in den die Versicherungsbranche weiter Milliarden Euro einspeisen muss, sei zwar grundsätzlich zu begrüßen, erfolge aber unter ökonomischen Gesichtspunkten zu schnell. „Vielleicht gibt es nach der Bundestagswahl im September 2017 noch einmal einen Ansatzpunkt, um über die Modalitäten dieser Reserve neu zu sprechen“, hofft Wiener.

Allein im vergangenen Jahr hatten die Lebensversicherer zehn Milliarden Euro in den zusätzlichen Geldtopf stecken müssen. Er war bisher mit 32 Milliarden Euro gefüllt und soll sicherstellen, dass die Unternehmen ihre Versprechen aus Zeiten hoher Zinsen auch künftig noch erfüllen können. Allein im Jahr 2016 packten die Versicherer nach Berechnungen der Ratingagentur Assekurata weitere 14 bis 15 Milliarden Euro in den Topf. Für die Versicherer kommen diese Lasten zur Unzeit, denn das Niedrigzinsumfeld macht der Branche schwer zu schaffen.
Rund 35 Billionen Dollar an Vermögen werden die großen Versicherer bis zum Jahr 2020 laut einer Analyse der Beratungsgesellschaft PwC insgesamt verwalten – Geld, das bisher vornehmlich in konservativen Anlageformen wie Staatsanleihen steckte. Das funktionierte in den vergangenen Jahrzehnten auch sehr gut. Viele Kunden durften auf deutlich mehr als nur den Garantiezins hoffen und dennoch blieb genug Geld für die Versicherer übrig, um auch den eigenen Aktionären gute Renditen zu bieten.
Doch seit die Zentralbanken rund um den Globus die Zinsen in den Keller geschickt haben, werfen Staatsanleihen und Pfandbriefe, in die Versicherer bisher hauptsächlich investiert haben, immer weniger ab – was es der Branche zunehmend schwerer macht, die hohen Zinsversprechen von bis zu vier Prozent aus Altverträgen zu erwirtschaften. „Wir erwarten, dass die lockere Geldpolitik der EZB noch für geraume Zeit fortgesetzt wird“, sagt Wiener in München vorher. So sieht die Branche den tiefsten Punkt des Tals der Null- und Negativzinsen in Europa zwar überschritten, rechnet aber nicht mit einer nachhaltigen Zinswende.
Das schwierige Umfeld beginnt deshalb, das Gesicht der ganzen Branche nachhaltig zu verändern. Denn die Konzerne forcieren inzwischen ein neues Anlageverhalten. Wie eine Studie des Vermögensverwalters Blackrock zeigt, entdecken die Manager nämlich nun notgedrungen etwas, was sie lange gemieden eher haben: den Mut zum Risiko.

Die schwer vorstellbare Summe von zwölf Billionen Dollar, umgerechnet elf Billionen Euro, verwalten allein die Unternehmen der Versicherungsbranche, die für die Studie befragt wurden. Was tun sie, wenn klassische Staatsanleihen praktisch keine Rendite mehr abwerfen, aber feste Garantiezinsen Millionen von Lebensversicherungskunden versprochen sind?
Die Experten in den Unternehmenszentralen der Branche haben dafür mehrheitlich eine Antwort: Um auf eine ausreichende Rendite zu kommen, erhöhen die Investmentmanager das Anlagerisiko. Die Versicherer werden danach auch im kommenden Jahr vermehrt auf risikoreichere Anlageformen setzen. „No risk, no fun“, lautet das neue Motto. Die Umfrage belegt: Die lockere Notenbankpolitik, niedrige Anleiherenditen und ein schwächelndes Wirtschaftswachstum führen dazu, dass der Risikoappetit der Versicherer drastisch steigt. So geben weltweit 47 Prozent der Befragten an, das Risiko in ihren Anlageportfolios innerhalb der nächsten zwölf bis 24 Monate anheben zu wollen. Lediglich acht Prozent planen dagegen eine Reduzierung.
Die Manager haben kaum eine andere Wahl. Vollmündig gaben viele Konzerne in den vergangenen Jahrzehnten hohe Renditeversprechen mit Zinsen von bis zu mehr als drei Prozent ab. Es sind Garantien, die nun für viele Firmen zunehmend zur Last werden. Denn die Gesellschaften müssen für die Altverträge hohe Summen an Eigenmitteln vorhalten. Das regeln die neuen Vorschriften für die Kapitalausstattung der Branche, die seit 1. Januar 2016 gelten. Solvency II heißt das gesetzgeberische Regelwerk. Es soll dafür sorgen, dass die Versicherer ausreichend Kapital für eingegangene Risiken vorhalten und im Krisenfall nicht vom Staat gerettet werden müssen.
Für die Versicherer sorgt das für neue Bürden. So stecken die Assekuranzen bereits seit mehreren Jahren zudem Gelder in die Zinszusatzreserve, die als zusätzlicher Kapitalpuffer dienen soll. Die notwendigen Eigenmittel können die Unternehmen über einen Zeitraum von insgesamt 16 Jahren schrittweise aufbauen – doch noch sind viele Firmen von diesem Ziel weit entfernt. Das Tempo, in dem die ZZR gebildet werden müsse, sei zu hoch, kritisierte jüngst bereits auch der Chef der Deutschen Aktuarvereinigung, Wilhelm Schneemeier.

Wenn sich die Berechnungsmethode nicht ändere, müsse die Branche bis 2025 insgesamt 225 Milliarden Euro zurücklegen, sollten die Zinsen so niedrig bleiben wie jetzt. Dafür müssten sie einen Großteil der Bewertungsreserven auflösen – was dem Zweck der ZZR zuwider laufe.
Kippt bald der erste kleine Lebensversicherer? Der Branchenverband GDV will davon nichts wissen. „Wir werden im Verband alles tun, um so etwas zu vermeiden“, betonte GDV-Präsident Alexander Erdland in München. Doch die Traditionsbranche muss neue Antworten auf alte Fragen finden: So verkaufen einige Gesellschaften klassische Lebensversicherungen mit Garantien bereits gar nicht mehr. Der Versicherer Zurich ist schon 2013 weitgehend aus dem Geschäft ausgestiegen, Konkurrent Generali will es ihm gleichtun.
Die Allianz hat die Policen noch im Angebot, will sie aber nicht mehr bewerben. Statt dessen setzen die Konzerne auf neue Angebote, die den Kunden allerdings keine festen Wachstumsgarantien mehr geben. Die haben für die Branche einen kleinen, aber entscheidenden Vorteil: Bei den neuen Policen trägt das Risiko nicht mehr allein der Konzern – sondern auch der Kunde.
Fonte:
Handelsblatt