Weinende Mütter mit schwer kranken Babys in den Armen flehen die Ärzte an, sie zu behandeln. Manchen sind die Knochen gebrochen, andere sind von schweren Krankheiten wie Gelbsucht oder Lungenentzündung gezeichnet. Doch die Mediziner in den Spitälern kennen selten Gnade. Wer die Behandlung nicht sofort bar bezahlen kann oder keine Krankenversicherung hat, wird abgewiesen. Manchmal sterben die Kinder noch unter den Augen der Ärzte – grausamer Alltag im Wirtschaftswunderland China.

Wenig besser ergeht es vielen Alten. In den Metropolen des Riesenreichs gehören die Müllsammler zum Straßenbild wie Ferrari oder Mercedes: greise Frauen und Männer mit rußverschmierten Gesichtern und schmutziger Kleidung, in der einen Hand einen Plastiksack, mit der anderen Hand auf der Suche nach leeren Flaschen und Getränkedosen in Mülleimern. Dafür gibt es vom Müllhändler ein paar Cent.

Eigentlich wollten die deutschen Finanzdienstleister den Mangel an Alters- und Krankenversicherung unter den 1,3 Milliarden Chinesen längst zum großen Geschäft machen. Doch die Anläufe der hiesigen Assekuranz sind Lehrbeispiele für Versuch und Irrtum. Europas Branchenführer Allianzetwa quält sich trotz frühen Einstiegs in dem schwierigen Markt. Die Krankenversicherung DKV, eine Tochter des Düsseldorfer Ergo-Konzerns, steigt aus dem Geschäft wieder aus. Die Bausparkasse Schwäbisch Hall wiederum versucht es gerade ein zweites Mal.

„Wir waren gut vorbereitet, und trotzdem haben wir die kulturellen Unterschiede bei den Kunden und bei unserem chinesischen Joint-Venture-Partner nicht genügend berücksichtigt“, sagt Matthias Metz, Chef der Bausparkasse in Schwäbisch Hall.

Chinas Geschäftspotenzial für Finanzdienstleister ist gewaltig. 300 Millionen Chinesen gehören zur zahlungskräftigen Mittelschicht. Die durchschnittliche Sparquote liegt bei einem Drittel des Haushaltseinkommens – dreimal mehr als auf den abgegrasten Märkten Europas. Doch auch Chinas Anbieter erkennen das Geschäft. „Der Marktanteil ausländischer Versicherer dürfte weiter sinken“, warnt der deutsche Finanzmanager eines großen chinesischen Versicherers. Erfolg und Scheitern lägen nah beieinander.

Uwe Michel ist das Gesicht der Allianz in Asien. Der 48-jährige Deutsche leitet von Shanghai aus den Bereich Asien und schwärmt: „Das Land wächst seit Jahren dramatisch, da wollen wir dabei sein.“ Sein Ansatzpunkt ist die kärgliche staatliche Absicherung der Chinesen gegen soziale Risiken. 18 Jahre lang wurde landauf, landab darüber debattiert, seit 2011 regelt nun ein Gesetz die chinesische Sozialversicherung. Grob gesagt gibt es je eine Versicherung für Rente, Krankheit, Arbeitslosigkeit, betriebliche Unfälle und Mutterschutz, dazu einen Fonds für den Erwerb eines Eigenheims. Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen gemeinsam ein.

Doch die Bemessungsgrenzen und Auszahlungen sind regional extrem unterschiedlich. Von einer echten Absicherung sowohl der einkommensstärkeren Stadt- als auch der ärmeren Landbevölkerung kann keine Rede sein. Allenfalls in Metropolen wie Peking und Shanghai fängt das staatliche soziale Netz Arbeiter und Angestellte halbwegs auf. Fern der Großstädte erfahren Kranke und Alte meist nur eine minimale Grundversorgung. Weil dies soziale Unruhen provoziert, erklärte der neue Staatspräsident Xi Jinping schon bei seiner Antrittsrede, den Bürgern müsse dringend ein besseres Leben ermöglicht werden.

Die Allianz steht mit Kapitallebensversicherungen bereit. Denn stirbt der Versicherte vor dem Erreichen seiner vereinbarten Rentenauszahlungen, erhalten die Angehörigen das Geld – also ist auch die Familie abgesichert. Während diese Policen in Europa wegen der zunehmend niedrigeren Verzinsung bei den Kunden immer unbeliebter werden, hofft die Allianz nun auf Wachstum in China, wo die Anlage der Prämien etwa in Staatspapiere zwischen vier und fünf Prozent Rendite versprechen.

Vor 14 Jahren lizenzierte die Regierung Allianz als einen der ersten ausländischen Versicherer für den Verkauf von Kapitallebensversicherungen in der Region Shanghai. Inzwischen vertreiben die Deutschen ihre Policen in 8 der 32 Provinzen des Landes. Doch einfach ist die Expansion nicht. Jede Provinz benötigt eine eigene Lizenz, und das Genehmigungsverfahren kann Jahre dauern. Kraft zum Durchhalten schöpfen die Versicherer aus den gigantischen Zahlen: Allein in der Provinz Hubei mit der Hauptstadt Wuhan leben 58 Millionen Menschen, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands.

Die Behörden erschweren Ausländern das Geschäft, indem sie sie in Joint Ventures mit chinesischen Unternehmen zwingen, an denen sie höchstens 50 Prozent halten dürfen. Allianz hatte Glück: Mit der staatlichen Investmentgesellschaft Citic Trust fand sie einen mächtigen Partner mit guten Verbindungen in die Politik.

Trotzdem läuft das Geschäft schleppend. 2012 verkaufte die Allianz in China 250 000 Lebensversicherungen, für dieses Jahr rechnet Michel mit 290 000 Neuverträgen. In Deutschland stieg die Zahl der von Allianz Leben verwalteten Verträge 2012 um ein Prozent auf 11,7 Millionen. Nun soll der Verkauf in Filialen der britisch-chinesischen Bank HSBC den Absatz ankurbeln.

Allein, auch nach fast eineinhalb Jahrzehnten Präsenz im Reich der Mitte macht die Allianz damit noch immer keinen Gewinn. Bisher lägen die jährlichen Verluste im Lebensversicherungsgeschäft in China im niedrigen einstelligen Millionenbereich, berichtet ein Insider. Die Zentrale in München sagt dazu nichts.

Nun will es Allianz auch mit Krankversicherungen in China versuchen. Dazu gründeten die Bayern vor Kurzem ein Gemeinschaftsunternehmen mit Chinas drittgrößtem Versicherer CPIC. Die neue Gesellschaft, an der die Allianz 25 Prozent minus eine Aktie hält, wartet derzeit auf die Genehmigung zum Verkauf von Krankenversicherungen.

Längst nicht alle Versicherer sind in China so ausdauernd wie die Allianz. Vor zwei Jahren kehrte die amerikanische Gesellschaft New York Life dem Reich der Mitte den Rücken. Die französische Versicherung Axa und der kanadische Anbieter Sun Life Financial reduzierten vor Kurzem ihren Anteil an Joint Ventures mit chinesischen Partnern.

Die Hamburger Versicherungsgesellschaft Hanse Merkur legte ihre China-Pläne wegen der hohen Hürden beim Markteintritt kleinlaut zu den Akten. Ein Mitarbeiter, den die Deutschen nach China geschickt hatten, wurde wieder abgezogen.

Die DKV war 2005 mit viel Tamtam ins Geschäft mit Krankenversicherungen eingestiegen und rühmte sich, dank langjähriger Präsenz und umfassender Kompetenz hervorragend aufgestellt zu sein. Inzwischen hat sie die Aktivitäten eingestellt. Der chinesische Partner, heißt es bei der DKV-Mutter Ergo, sei vor allem an schnellem Wachstum statt an Profitabilität und Nachhaltigkeit interessiert gewesen.

Nach dem Flop mit der DKV versucht es Ergo in China nun mit Policen gegen die Altersarmut. Noch ab diesem Sommer, so plant Jochen Messemer, Vorstand für das internationale Geschäft bei Ergo, sollen Kapitallebensversicherungen verkauft werden. Den Anfang macht die Provinz Shandong im Osten Chinas, wo die Düsseldorfer mit ihrem örtlichen Partner Shandong Investment einen Agenturvertrieb mit 1000 Vertretern hochziehen wollen.

Ergo-Vorstand Messemer ist sich sicher, dass sich die Policen mit Laufzeiten zwischen wenigen Jahren und mehreren Jahrzehnten gut verkaufen, da es im Reich der Mitte einen Mentalitätswandel gebe. Bisher hätten die Chinesen vor allem auf kurzfristige Rendite angelegte Sparpläne auf Basis von Aktien gekauft. „Das ändert sich gerade“, sagt Messemer, „die Menschen denken langfristiger.“ Mit dem chinesischen Partner Shandong Investment will Ergo in den ersten Jahren etwa zehn Millionen Euro investieren und erwartet für die ersten zehn Jahre rund 600 Millionen Euro Prämien.

Für Ergo ist das Geschäft zunächst ein Test. In drei Jahren will die Zentrale entscheiden, ob weiter expandiert wird. Priorität bei den Auslandsaktivitäten hat für die Düsseldorfer weiterhin Osteuropa.

Die Konkurrenz im Lebensversicherungsgeschäft ist brutal in China. 41 landesweite und 26 lokale Anbieter buhlen um Kunden. Das Prämienaufkommen lag im Reich der Mitte nach Berechnungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers zuletzt bei 3,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Deutschland bei fast acht Prozent.

 

Was die Gesellschaften reizt, sind deshalb die Wachstumsraten. Die Prämieneinnahmen in China steigen jährlich zwischen 16 und 18 Prozent. Munich Re geht davon aus, dass der chinesische Erstversicherungsmarkt bis 2020 weltweit die höchsten Beitragszuwächse verzeichnen wird. Doch geschützt von restriktiven Lizenzvergaben, Joint-Venture-Zwang und Investitionsobergrenzen für Ausländer, machen vor allem die staatlichen Platzhirsche China Life und Ping An das Geschäft.

Chinas protektionistische Haltung ist der Konkurrenz aus dem Westen schon lange ein Dorn im Auge. „Es gibt nach wie vor hohe Hürden beim Markteintritt“, kritisiert Jörg von Fürstenwerth, Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Versicherer.

EU-Politiker prangern die Missstände auf Gipfeltreffen mit den chinesischen Amtskollegen regelmäßig an. Zudem macht die Europäische Handelskammer in China Druck bei den Behörden vor Ort Trotzdem: Bewegt hat sich bisher wenig.

Besser ergeht es der Bausparkasse Schwäbisch Hall. Bausparer legen monatlich bei einem Anbieter für niedrige Zinsen einen festen Betrag zurück, um von ihm dafür später einen zinsgünstigen Immobilienkredit zu bekommen. So etwas ist neu und konkurrenzlos in China. Zwar organisiert auch der Staat einen Immobiliensparfonds, doch der hat einen signifikanten Nachteil. Während Bausparern feste Zinsen garantiert sind, nutzt China den Fonds je nach politischem Kalkül zur Steuerung des Immobilienmarktes.

Gleichwohl lief es für die Bausparkasse aus Baden-Württemberg nicht sofort rund. 2004 startete Deutschlands Branchenprimus seinen ersten Anlauf mit einem Joint Venture namens Sino-German Bausparkasse (SGB) in der Stadtprovinz Tianjin südöstlich von Peking mit rund 13 Millionen Einwohnern.

Doch die Erwartungen erfüllten sich zunächst nicht. „Wir hatten Startschwierigkeiten“, sagt Matthias Metz, heute Chef der Bausparkasse. „Außendienstler bekamen nur schwer Zugang zu den Kunden. Anders als in Deutschland sind Hausbesuche dort absolut unüblich, auch in der Bank spricht man nicht einfach wartende Kunden an.“ Inzwischen setze die SGB verstärkt auf Fernsehspots und Mund-zu-Mund-Propaganda. Jede Provinz ticke zudem völlig anders. Und das Geschäft funktioniere nur, wenn sich die Top-Manager beider Partner vertrauen. „Das ist in China mehr wert als alles Papier der Welt“, sagt Metz.

Die Lernfähigkeit der Häuslefinanzierer hat sich gelohnt. 2012 machten sie in China rund 16,5 Millionen Euro Gewinn vor Steuern, 2011 waren es erst zehn Millionen. Die Bausparsumme, also die Verträge über das angesparte Guthaben und die anschließenden Darlehen, summieren sich auf 3,52 Milliarden Euro. 60 000 Wohnungen finanzierten die Schwaben mit. Zwei weitere Provinzen haben jetzt Interesse angemeldet. Vorstandschef Metz profitiert auch von den Folgen des Frauenmangels in China: „Ein Mann in der Stadt braucht eine Wohnung, um eine Frau zu finden.“

 

Der heimische Bauspar-Konkurrent Wüstenrot hingegen verzichtet auf die Expansion nach China. Man habe in der Heimat ausreichend mit der Modernisierung des Mutterkonzerns, der Wüstenrot & Württembergischen AG, zu tun.

Dabei brachte ausgerechnet deren heutiger Chef Alexander Erdland, damals noch Vorstandsvorsitzender des Konkurrenten, einst Schwäbisch Hall nach China. Doch dort machte er die gleiche Erfahrungen wie viele andere Unternehmer. „Jiao bing bi bài“, sagt ein Sprichwort – auf Deutsch: „Arrogante Soldaten verlieren sicher.“