Hans-Jürgen Allerdissen ist Geschäftsführer der Deutschen Verkehrs-Assekuranz-Vermittlungs-GmbH
Haben Sie eine entschiedene Meinung zum Atomausstieg, zur griechischen Schuldenkrise, zu Stuttgart 21 und dem EHEC-Risiko? Oder gestatten Sie sich den Luxus, zurzeit noch keine abschließende Meinung zu haben?
Die Intensität, mit der diese Themen in allen Medien in den vergangenen Wochen diskutiert wurden, überstrahlt jedes andere Ereignis. Scheinbar ist die Bedeutung dieser Risiken enorm. Warum? Ich möchte einen kleinen Erklärungsansatz bieten:
Sie werden zustimmen, dass die Relevanz einer Frage für Sie immer dann steigt, wenn Sie emotional betroffen sind. Eigene Angst, Begeisterung, Zorn oder Sendungsbewusstsein rücken ein Thema sofort in den Mittelpunkt und andere Probleme und Fragen in den Hintergrund. Sofort steigt Ihr Bedürfnis, möglichst viel Wissen zum Thema zu haben.
Nun sind aber mehr als 99 Prozent unseres vermeintlichen, intellektuellen Wissens aus zweiter Hand. Nämlich angelesen, erklärt oder inzwischen auch ergoogelt. Nichts oder nur ganz wenig können Sie selbst autark erforschen. In diese unbehagliche Diskrepanz zwischen dringendem Wissenwollen und der Unmöglichkeit eigener Problemerforschung drängen sich dann in “Krisenfällen” Medien und Politik. Bei jedem (drohenden) nationalen oder globalen Risiko bedienen sie mit ihrem Schwarm von vermeintlichen Experten den Wissensdurst des interessierten Publikums. In Presse, Fernsehen und Internet ist dann besonders der Typus gefragt, der in einfachen Worten komplizierteste Sachverhalte und Zusammenhänge erklärt und am besten schon Lösungsvorschläge mitbringt. Ist diese Rolle nicht gleich zu besetzen, wird ersatzweise auch schon mal der vermeintlich fachkundige Reporterkollege gefragt, den eigentlich nichts anderes auszeichnet, als seine körperliche Anwesenheit am Ort des Geschehens.
In der zweiten Stufe werden dann die Experten präsentiert, die gegenteilige Erklärungen oder Lösungsansätze vertreten. Laienhaft oder im besten Fall populärwissenschaftlich ereignet sich in den Internetblogs dasselbe. All diese vermeintlichen Experten, deren Wissen ebenfalls fast ausschließlich angelesen, abgefragt oder ergoogelt ist, hämmern nun in einer Kakophonie auf das wenig oder gar nicht vorbereitete Publikum ein.
Fast zwangsläufig reagieren wir alle dann irgendwie emotional. Wenn aus Wissensdurst Unbehagen, Betroffensein, Unsicherheit oder Angst wird, hat das aktuelle Thema sofort einen sehr hohen Stellenwert. Der ein oder andere wird plötzlich von Sendungsbewusstsein umgetrieben und verwandelt sich zum Aktivisten “Pro” oder “Contra”. Bei den vermeintlichen Großrisiken einer Vogelgrippenpandemie, den Computerausfällen zur Jahrtausendwende, der europaweiten BSE-Seuche haben wir ja alle dasselbe Schauspiel erlebt.
Ich will die Risiken der Schuldenkrise, des Atomausstiegs, von Stuttgart 21 oder EHEC nicht kleinreden, aber die Dimensionen etwas zurechtrücken. Bekanntlich ist Angst ja ein schlechter Ratgeber. Sie wird heute aber oft im neuen Mäntelchen instrumentalisiert. Man redet dann von “Betroffenheit”, “Sorge um die Zukunft” und will in Wirklichkeit das Gegenüber nur vereinnahmen. Glauben Sie gerne dem echten Zeugen, werden Sie jedoch nachdenklich, wenn ein Überzeuger aktiv wird. Der Überzeuger hat sich sein vermeintliches Expertenwissen eben auch zu 99 Prozent nur aus zweiter oder sogar dritter Hand verschafft.
Vielleicht gönnen Sie sich demnächst ja auch öfter einmal den Luxus, selbst abzuwägen, ob das vermeintlich im Augenblick erkannte Extremrisiko diese Bewertung wirklich verdient vor dem Hintergrund der echten Risiken wie Klimaveränderung, Überfischung der Meere, Artensterben, zunehmendem Trinkwassermangel, extrem steigenden Preisen für Lebensmittel und Elendsflüchtlingen.